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Somatik und Kinaesthetics

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Als Tänzerin und somatische Bewegungstherapeutin habe ich vor Kurzem Kinaesthetics kennengelernt. Dadurch drängte sich mir die Frage nach einem Vergleich der beiden Fachgebiete auf.

Auf in die neue Welt. Anfang der 90er-Jahre zog es mich für meine zweite Ausbildung nach Kalifornien. Ich war auf der Suche nach einer Ausbildung, bei der es weniger ums Pauken von Schulwissen geht, sondern darum, die eigene Erfahrung zu schulen. Mir war klar, dass ich Menschen nur so weit begleiten kann, wie ich auch selbst zu gehen bereit bin.Nun war ich also in Kentfield, in diesem kleinen Dorf nördlich von San Francisco. Ich fuhr mit mei-nem VW Rabbit die kurvige Straße hoch Richtung Mount Tamalpais. In der bewaldeten Gegend hatte es einige Residenzen. Ich kam beim Parkplatz an, wo mich einer meiner zukünftigen Lehrer begrüßte. Er wies mich zu einer großen Holztür im Zaun. Ich ging da durch.

Unsere Tanzbühne. Eine Naturtreppe führte mich hinunter zum Studio. Ich erblickte Anna Halprins Tanz-Deck unter dem freien Himmel, auf dem schon ganz viele bekannte Füße getanzt hatten. Hier wurde über Jahrzehnte Tanzgeschichte geschrieben. Dies wird also für mich zusammen mit 24 anderen Menschen aus aller Welt für die nächsten Monate das Zuhause sein, unsere Werkstatt. Hier werden wir von Montag bis Freitag mindestens sechs Stunden lang tanzen, uns bewegen. Hier werden wir in unsere eigenen Lebensgeschichten eintauchen. Hier werden wir unsere Anatomie kennenlernen und das Wissen sogleich in Bewegung umsetzen und weiter erforschen. Hier werden wir durch den Ausdruck des Tanzens, des Malens und des Schreibens zum Archetypischen unserer Körpergeschichten vorstoßen. Hier werden wir auch lernen, dieses Archetypische wieder zurück in unsere Kunst einfließen zu lassen, um Kunst zu machen, die bewegt.

Thomas Hannas Somatik. Nach zwei Jahren war ich reich an Erfahrungen und Schätzen. Zur Graduation des Tamalpa Instituts gehörte unter anderem ein «Final Paper» und eine «Final Performance». Danach war ich zertifizierte Halprin Life/Art Practitioner. Voller Elan und mit viel Pioniergeist stellte ich diese Arbeit vor und führte Workshops durch. Um einen internationalen Abschluss zu erhalten, musste ich zusätzlich einige Stunden neuromuskuläre Musterveränderung in der Praxis vorweisen können.
Ich entschied mich, Somatik von Thomas Hanna zu lernen. Die Handgriffe in der Einzeltherapie waren klar vorgegeben. Auch in der Gruppe war die Anleitung ganz genau vorgeschrieben – ein großer Unterschied zu dem, was ich unterdessen im Zusammenhang mit Kinaesthetics erfahren konnte. Es war auch ein extremer Kontrast zur Ausbildung am Tamalpa Institut, wo wir uns mit sehr wenig Theorie auseinandersetzten. In dieser Hinsicht war dies eine tolle Abrundung meiner Ausbildung. Nun hatte ich alle Anforderungen erfüllt, um mich bei ISMETA.org (International Somatic Movement Education and Therapy Association) als somatische Bewegungstherapeutin registrieren zu lassen.

Zurück in der Schweiz. Mehr als zwei Jahrzehnte später kehrte ich wieder in die Schweiz zurück. An einem Freitag besuchte ich meine Homöopathin. Nach der Behandlung fragte sie mich: «Was möchtest du denn jetzt machen, da du wieder in der Schweiz bist?» Ich erzählte ihr von meinen verschiedenen Interessen. Davon, dass ich ein Buch schreiben möchte und bereit bin, wieder Bewegungswahrnehmung in Workshops und Trainings zu vermitteln. «Ich wünsche mir, mit Teams zusammenzuarbeiten, um gemeinsam Ideen zu realisieren und zu verbreiten. Ich will die neueste Technologie benutzen, um mehr Bewusstheit zu fördern in den Bereichen des Gesundheitswesens, der Altenpflege sowie in der Erziehung und in zwischenmenschlichen Beziehungen.» Ich erzählte ihr von Erfahrungen in den USA, von neuen Formen der Geschäftsführung, der Werbung, des Erwerbs, des Publizierens. Ich teilte ihr mit, dass es ein «Project Heaven on Earth» gibt, das weltweit vernetzt ist, und dass ich auch mit dabei bin, gemeinsam den Himmel auf Erden zu erschaffen.
Am nächsten Morgen traf ich einen Kollegen. Auch er fragte mich nach meinen Visionen und nach dem, was ich denn nun machen möchte. Ich erzählte es ihm. Zu meiner Überraschung sagte er nach einer Weile genau das gleiche, wie die Homöopathin am Vortag: «Du musst unbedingt mit Stefan Knobel reden.» Und wie das Schicksal so spielt, stellte mir mein Kollege diesen Mann am selben Nachmittag noch persönlich vor.

Verbindende LehrerInnen, verbindende Gedanken. Ich erinnere mich, wie wir ein paar Wochen später in Siebnen am Hauptsitz von Kinaesthetics Schweiz unser erstes Gespräch hatten. Als ich Stefan zuhörte, dachte ich: «Der tönt ja wie ich. Jetzt redet mal ein anderer als ich von der modernen Sklaverei.» Unsere Gedankengänge fanden sich. In sehr kurzer Zeit wurde die Verwandtschaft klar zwischen diesen beiden Ausbildungsrichtungen: dem Tamalpa Institut in Kalifornien sowie von Kinaesthetics in Europa (siehe Kasten).
Gegen Ende fragte er mich, ob ich ihm eventuell ein Interview mit der Tanzpionierin Anna Halprin vermitteln könne. Er trage seit vier Jahren ein Buchprojekt in sich, das er gerne verwirklichen würde. Er fragte mich: «Kennst du den Namen John Graham?», denn er wolle ein Buch über diesen Kinaesthetics-Mitbegründer schreiben. «Natürlich kenne ich diesen Namen! Ich wusste aber nicht, dass er auch einer der Kinaesthetics-Pioniere war. Ich habe während meiner Ausbildungszeit im Tamalpa Institut immer wieder Geschichten über John gehört. Er war ein ganz wichtiger Mensch für Anna Halprin. Er hat jahrzehntelang auf dem Tanz-Deck in Kentfield mit Anna Halprin getanzt und geforscht. Außerdem haben sie gemeinsam ganz viele tolle und wichtige Performances gemacht, die Geschichte schrieben.» Als Stefan das Leuchten in meinen Augen sah, fragte er mich, ob ich Mitautorin des Buchs über John Graham sein möchte.

Dieselben Fragen. Wie funktioniert der Mensch? Was ist Bewusstsein? Wie setze ich meinen Körper ein, um mehr im Hier und Jetzt zu leben? Diese Fragen faszinieren mich schon ein ganzes Leben lang. Und genau diese Fragen stehen auch im Zenrum von Kinaesthetics – und Kinaesthetics Schweiz hat seinen Sitz in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin und leben will. Ich besuchte darauf einen Kinaesthetics-Grund- und -Aufbaukurs und die weitere Zusammenarbeit begann. Gemeinsam bringen Stefan und ich den Tanz und Kinaesthetics zusammen. Wir bieten einen Kinaesthetics-Grundkurs Kreatives Lernen mit dem Thema «Kinaesthetics und Contact-Improvisation» an. Im Vorfeld des Kur-ses kam die Frage auf, was eine somatische BewegungstherapeutIn ist. Auf diese gehe ich im Folgenden ein.

Somatische BewegungstherapeutIn. Unter einer BewegungstherapeutIn können sich wahrscheinlich die meisten Menschen etwas vorstellen. Ich denke, das Problem liegt beim Wort «somatisch». Was bedeutet es?
Das Wort kommt vom griechischen Adjektiv «somatikós», das «körperlich, den Körper betreffend» bedeutet. Bei Thomas Hanna bedeutet es «von innen erfahrend und reguliert» und «Soma» bezeich-net das lebende, sich selbst bewusste, sich regulierende und beobachtende Wesen, das dem Körper innewohnt. Thomas Hanna hat den Begriff «Somatik» (englisch Somatics) geprägt. Somatik beschreibt das Studium des Selbst aus der Perspektive der eigenen, gelebten Erfahrung von Körper, Psyche und Geist.
Anatomisch gesehen basiert der kinästhetische Sinn auf einer Vielfalt von Rezeptoren. Diese Rezeptoren sprechen auf innerliche Unterschiede des Drucks, der Anstrengung sowie der Orientierung und Stellung der Körperteile an. Der kinästhetische Sinn erschließt uns die innere, lebendige Realität unserer Körpers.
Der kinästhetische Sinn ist im Somatischen enthalten, aber nicht umgekehrt: Soma bedeutet das sich selbst wahrnehmende, verkörperte Wesen. Der kinästhetische Sinn ist somit ein Teil des Soma, das Soma ist jedoch mehr als der kinästhetische Sinn. Das Soma ist die Gesamtheit des inneren Wahrnehmens und schließt die Gedanken- und Gefühlsmuster mit ein. Es ist eine ganzheitliche Schau auf das individuell verkörperte Wesen.

Die Arbeit einer somatischen BewegungstherapeutIn. Als somatische Bewegungstherapeutin unterstütze ich Menschen in ihrer Selbstwahrnehmung. Die Gedanken- und Gefühlsmuster bilden zusammen mit den Bewegungsmustern eine Gestalt. Diese Gestalt ist die Persönlichkeit, die Identität, die ein Mensch sich erschafft. Die Verhaftung mit dieser Identität führt oft zu Leiden, denn das Leben ist Bewegung und Veränderung. Wenn wir an der vermeintlichen Sicherheit der aufgebauten Identität festhalten, schafft das Reibung und Diskrepanz. Ein sogenannter fluider Bewegungsapparat ist meistens gepaart mit einem gesunden Mental- und Emotionalkörper. Als somatische Bewegungstherapeutin schaue ich gemeinsam mit der KlientIn die Lebensmuster an. Der Hauptfokus liegt auf dem Körper und den Bewegungen. Oftmals können Probleme auf der mentalen und emotionalen Ebene durch einfache Bewegungen verändert oder sogar aufgelöst werden.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Was ist der Unterschied zwischen Kinaesthetics und der somatischen Bewegungstherapie? Bei der Arbeit mit Menschen geht es in beiden Fachgebieten um die Schulung der inneren Wahrnehmung. Bei beiden geht es um das Erkennen von Mustern. Darum, die eigene Kompetenz zu erweitern und im Alltag mehr kreative Möglichkeiten zu erschließen. Um die Entfaltung des menschlichen Potenzials. Und um eine Erhöhung der Lebensqualität. Wo ist dann der Unterschied? Im großen Ganzen überwiegen wohl die Gemeinsamkeiten. Ein Unterschied besteht jedoch in der grundsätzlichen Haltung.

Auf Augenhöhe. Ich fühlte mich nie richtig wohl mit den Bezeichnungen LehrerIn oder TherapeutIn. Beide bezeichnen für mich eine hierarchische Beziehung. In meinem Beruf treffe ich Menschen auf Augenhöhe, ohne Hierarchie. Es ist eine Verbindung von Mensch zu Mensch. Es ist ein gemeinsames Lernen und Erforschen. Ich stelle dem anderen all mein Gelerntes, meine Erfahrungen, meine Methoden zur Verfügung für die Vertiefung der eigenen Wahrnehmung. Da passt der Ausdruck TrainerIn eigentlich viel besser. Ich bin sehr fasziniert von der Forschungsebene von Kinaesthetics. So sehe ich mein eigenes Dilemma mit den Begriffen LehrerIn oder TherapeutIn in der Theorie von Behandlungsparadigma versus Lernparadigma widergespiegelt. Als somatische Bewegungstherapeutin bin ich ja ganz klar Teil des Behandlungsparadigmas. In der inneren Wahrnehmung meiner Arbeit ging es mir jedoch von Anfang an immer um die Anwendung des Gelernten im Alltag des Lernenden. Nicht die Behandlung einer Krankheit steht im Vordergrund. Es geht vielmehr darum, Werkzeuge zu vermitteln, die dem Menschen helfen, die Vielfalt der Bewegung und des Seins erfahren, leben und genießen zu können.

Vom Behandlungs- zum Lernparadigma. Ein Paradigmenwechsel scheint dringend nötig zu sein, ein Wechsel von der Bestimmungsmacht der Gesundheitsindustrie hin zur Entfaltung des eigenen menschlichen Potenzials. Die wissenschaftliche Medizin, die sich mit der Pathogenese beschäftigt, hat große Fortschritte gemacht. Was es aber nun braucht, ist die Entwicklung der Salutogenese. Es geht darum, die subjektive Erfahrung des Menschen zu nutzen und zu unterstützen. Es ist wichtig, neben der 3.-Person-Forschungsmethode (der Körper als objektiver, mechanischer Gegenstand) die 1.-Person-Methode (der Körper aus subjektiver Sicht meiner eigenen, momentanen Erfahrung) zu entwickeln. Wir brauchen einen Wechsel vom Behandlungsparadigma hin zum Lern- und Entwicklungsparadigma. Es gibt sehr viele medizinische Koryphäen. Es gibt sehr viele ExpertInnen, die über den einzelnen Menschen und die Behandlungsmöglichkeiten entscheiden. Aber es gibt nur den einen Menschen, der den eigenen Körper von innen her wahrnehmen kann. Solange dieser Experte des eigenen Körpers nicht in ein gemeinsames Lernen mit den medizinischen ExpertInnen einbezogen wird, sind und bleiben die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten eingeschränkt.

Gemeinsamkeiten. Sicher gibt es Unterschiede zwischen Kinaesthetics-TrainerInnen und somatischen BewegungstherapeutInnen. Die Übereinstimmungen scheinen jedoch zu überwiegen. Verbindend ist die Überzeugung, dass die Krise des Gesundheitswesens dringend einen Paradigmenwechsel braucht. Die Pionierarbeit von Kinaesthetics sowie der somatischen Bewegungstherapie können gemeinsam einen Gegenpol bilden hin zu einer ganzheitlicheren Gesundheitsentfaltung. Die Schulung der eigenen Wahrnehmung und der Einbezug dieser individuellen Wahrnehmung in die Medizin und das Gesundheitswesen ist ein Schritt, der absolut notwendig ist.

Es gibt viel zu tun, packen wir es an!

Kinästhetik. 3. Bulletin August 1982 (S. 4), Auszug aus dem Editorial: Durch die Gründung eines Vereins hoffen wir auf Interaktionen in der immer mehr an Bedeutung gewinnenden Lehre «kreatives Lernen durch Bewegung als Einheit». Der Verein wird uns helfen, uns in Form und Inhalt eines neuen Berufes zu behaupten. Anna Halprin und andere Mitglieder des Tamalpa Institutes in San Francisco kamen mit Lenny Maietta und Frank Hatch überein, einen Austausch zwischen den beiden Institutionen zu fördern. Die gemeinsame Aussage über ihre Arbeit:«Wir bewegen uns in Richtung eines breiten Feldes in kreativem Lernen durch Bewegung als Einheit. Wir betrachten Bewegung als den Prozess, durch welchen jedes menschliche Verhalten sich entwickelt und sich ausdrückt. Die Einsichten aus diesem Feld sind von großem Interesse für Psychologen, Erzieher, Mediziner und Soziologen, genauso wie für Künstler in allen Gebieten. Der Verein für Kinästhetik ist ein Zentrum dieses sich erschließenden Feldes. Es gibt andere in der Welt, welche wir gerne empfehlen. Wir offerieren Kurse in Europa und in Amerika, verteilt auf das ganze Jahr. Auch führen wir eine Liste von allen Leuten, welche in diesem Feld unterrichten.»

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