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Der Brustkorb – das Stiefkind der Massen

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Der Kinästhetik zufolge liegt der Brustkorb in der Mitte der Zentralmassen. Leider wird ihm im Pflegealltag viel zu wenig Beachtung geschenkt. Oft hat das mit mangelnder Wahrnehmung des eigenen Brustkorbs zu tun. Ebenso oft wird auch die entscheidende Bedeutung des eigenen Körpers bei der Mobilisierung eines Pflegebedürftigen stiefmütterlich ignoriert. Lasst uns dies ändern. Die Würde des Menschen ist unantastbar, wenn wir lernen, mit unserem eigenen Körper würdevoll umzugehen.

Der Brustkorb in der Pflege. Obwohl in der Kinästhetik der Brustkorb eine der zentralen Massen ist, wird er in der Praxis enorm vernachlässigt. Bei vielen Bewegungsunterstützungen wird er von den Pflegenden kaum miteinbezogen. Man ist es gewohnt, die Menschen am Arm zu führen, ihnen sprichwörtlich «unter die Arme zu greifen». Doch so nehmen wir ihnen oft unbemerkt ganz viel ihrer eigenen Handlungsfähigkeit. Wir behindern sie, obwohl wir es so gut meinen.

Die Welt «be-greifen». Als Kinder lernen wir die Welt kennen, in dem wir sie «be-greifen». Die Hände nehmen wahr, berühren und erfahren die unterschiedlichsten Gegenstände in der Umgebung. Das Kind lernt, sich aufzuziehen und sich selbst zu halten. Mit Armen und Händen begreift es seine Umgebung und wird selbstständiger.

In Würde alt werden durch «be-greifen». In Würde alt werden heißt, dass wir immer noch «be-greifen» wollen und «be-greifen» müssen. Oft verlieren die Menschen im Alter mehr und mehr ihre Selbstständigkeit. Sie sind auf Hilfe angewiesen. Sie wollen jedoch immer noch ihre eigene Selbstwirksamkeit erkennen und erfahren. Mit der Anhäufung verschiedener Gebrechen ist dieses Handeln in der Bewegung oft auf die Arme und Hände reduziert.

Vom eigenständigen Handeln und Balancieren. Wir, als wohlmeinende Pflegepersonen, schränken mit unserem Unterstützungsangebot oft unbewusst die Bewegungsfähigkeiten der BewohnerInnen ein. In der Praxis sehe ich immer wieder, wie Pflegepersonen sich vor sitzende, unterstützungsbedürftige Menschen hinstellen, ihnen beide Arme anbieten und sie so zum Aufstehen bewegen. Es wird an den Armen gezogen, die Ellbogen werden nach oben gedrückt, es wird unter den Achseln unterstützt, an Händen geführt und der Oberarm an den Brustkorb gedrückt. Leider behindert das mehr, als dass es die BewohnerInnen in ihrer Selbstwirksamkeit unterstützt.

Konzentriere dich auf den Brustkorb. Die Hände und Arme helfen dem Menschen, das Gleichgewicht zu halten. Wenn du auf einem Balken turnst oder im Bachbett von Stein zu Stein gehst, wirst du automatisch deine Arme brauchen, um deine Balance zu finden. Genauso benutzen auch SeiltänzerInnen ihre Arme und Hände zum Ausbalancieren. Konzentriere dich daher als Pflegende lieber auf den Brustkorb und lass die BewohnerInnen selbst handeln und ausbalancieren.

Die Anatomie von Schultergürtel und Brustkorb. Nehmen wir doch den Brustkorb aus der Rolle der stiefmütterlichen Nebensächlichkeit und schenken ihm einmal bewusst Aufmerksamkeit. In der Anatomie sehen wir, dass der Schultergürtel mit den Armen über dem Brustkorb hängt. Er ist über das Schlüsselbein mit dem Brustkorb verbunden und hat keine Verbindung mit der Wirbelsäule. So thront der Schultergürtel über dem Brustkorb und die Arme hängen frei. Der Brustkorb besteht aus zwölf Rippen, zwölf Brustwirbeln und dem Brustbein. Zusammen ergibt das eine relativ große Masse mit viel Fläche. Über die Wirbel lässt der Brustkorb Bewegung zu; so kann sich der Brustkorb nach vorne und hinten beugen, sich nach links und rechts drehen. Mit der Atmung kommt zusätzlich eine Ausdehnung und ein Zusammenziehen der Rippen dazu. So ist trotz der großflächigen Stabilität auch Bewegung möglich, ja sogar notwendig.

Verkopfte Gesellschaft.In unserem Informationszeitalter sind immer mehr Menschen kopflastig. Der Intellekt wird großgeschrieben. Es gibt aber auch vermehrt Situationen, die den Menschen verunsichern und über die er sich Sorgen macht. Wieder ist der Mensch im Kopf und vergisst dabei seinen Körper. Wen wundert es da, dass in unserer Gesellschaft beispielsweise Rückenschmerzen ein immer größer werdendes Problem darstellen?

Kopflastigkeit und starrer Brustkorb.Ich habe das am eigenen Körper beobachtet. Wenn ich gerade vieles im Kopf rumwälze, atme ich nur ganz oberflächlich. Meine Rückenmuskeln halten den Brustkorb zusammen, sie sind aktiv und strengen sich an, als wollten sie mithelfen. Die Bewegungen im Brustkorb sind stark reduziert. Es findet eine Art  Versteinerung  statt  mit  verminderter Sauerstoffzufuhr. Auf der somatopsychologischen Ebene findet eine «Panzerung der Gefühle» statt.

«Entpanzerung» des Brustkorbs. Wenn ich mir meiner Verspannung im oberen Rücken bewusst werde, kann ich lernen, meine Muskeln zu entspannen. Das Liegen auf einer harten Unterlage hilft, die Rückenverspannungen besser wahrzunehmen. Langsame, aufmerksame Drehund Dehnbewegungen, gepaart mit einer verlängerten Ausatmung, unterstützen dieses bewusste Loslassen. In dem Moment, in dem sich die Muskeln entspannen, fließt der Atem automatisch wieder vermehrt ein. Die Atembewegung wird größer. Der Rippenbogen dehnt sich aus. Die Organe haben wieder mehr Platz. Ich komme aus meinem Kopf raus und in meinen Körper hinein. Und siehe da: Oft kommen dann auch die Lösungen wie von selbst. Ich bin nicht mehr in einer mentalen und körperlichen Anspannung. Die Erstarrung des Denkens wurde aufgehoben durch den Fluss des Atems und die Bewegungen des Brustkorbs. Diese Organe brauchen Platz und Bewegung.

Bleiben wir noch einen Moment bei der Anatomie. Oben haben wir die knöcherne Struktur des Brustkorbs betrachtet. Was  befindet  sich  unter  dieser  Struktur und was ist ihre Aufgabe? Der Rippenbogen gestaltet einen Hohlraum, in dem  lebensnotwendige  Organe ihren Sitz haben und von der knöchernen Struktur geschützt werden. Da liegen Herz, Lungen, Nieren, Magen, Gallenblase und Leber.

Probieren Sie es doch gleich mal bei sich selbst aus.
Legen Sie eine Hand oder die Finger auf Ihr Brustbein und – so gut es geht – den Handrücken Ihrer anderen Hand auf den Rücken. Drücken Sie dann mit dem  Brustbein  in  Richtung  Finger.  Drücken  Sie  danach mit den Fingern das Brustbein zurück und nehmen Sie die Bewegung im Rücken wahr. Einatmen, Richtung Finger. Ausatmen, wieder zurück. Machen Sie das ein paarmal. Am Anfang braucht es vielleicht noch ein wenig Übung um die Achtung auf diese differenzierte Bewegung des Brustkorbes zu bringen.

Wenn Sie diese Übung ausführen, beobachten Sie, was alles in Bewegung kommt. Was nehmen Sie in Ihren Schultern wahr? Was spüren Sie in Ihrem Nacken? In dieser kleinen Bewegung spielt vieles zusammen. Es ist eine wahre Freude, damit zu spielen und zu forschen, vor allem auch während der Arbeit mit anderen Menschen. Wie können Sie Ihren eigenen Brustkorb und auch Ihr Brustbein in Ihre Pflegetätigkeit miteinbeziehen?

Je mehr wir uns bewusst werden, wie beweglich unser eigener Brustkorb eigentlich ist, desto besser können wir die BewohnerInnen unterstützen, vielfältigere Wege für ihre Bewegungen zu finden. Überall am Rücken, wo wir  die  Rippen  der  BewohnerInnen  spüren, kann leichter Druck aufgelegt werden.  Mit  den  Bewegungsmöglichkeiten der Wirbel kann auch eine Richtungsänderung herbeigeführt werden. Dazu kann schon eine federleichte Hand genügen.

Folgen eines starren Brustkorbes.Was passiert, wenn wir verkopft sind und nicht mehr richtig atmen? Die Organe werden eingeengt und bekommen zu wenig Sauerstoff. Das kann verschiedenste Krankheiten hervorrufen. Ohne Bewegung fehlt den Organen die zusätzliche innere Massage. Sie gleiten weniger. Das Bindegewebe verklebt sich und engt das Organ noch mehr ein. So können unbemerkt Langzeitschäden auftreten.

Der natürliche Atem.Bei einem natürlichen, vollen Atem dehnt sich das Zwerchfell nach oben und unten aus. Zusätzlich hilft die Atembewegung des Brustkorbes mit, die Organe rhythmisch sanft zu massieren. Die Organe erhalten bei einem vollen Atem mehr Sauerstoff, was für den Stoffwechsel essenziell ist. Das Bindegewebe bleibt fließend, umhüllt die Organe und hilft mit, dass sie sich frei bewegen können und gut durchblutet bleiben.

Folgen des natürlichen Atems. Auf der knöchernen Ebene gewährleistet ein natürlicher, voller Atem die rhythmische Bewegung des Ausdehnens und Zusammenziehens des Brustkorbes. Die  Wirbel  werden mit jedem Einund Ausatmen sanft bewegt, was den Bandscheiben hilft, «schwammig» zu  bleiben.  Das Brustbein hebt und senkt sich, was eine sanfte Bewegung in den Schulterblättern, Schultern und dem Nacken nach sich zieht. Diese Bewegung hilft den Muskeln, die chronischen Anspannungen loszulassen.

Ist volle Einatmung noch möglich?Können ältere Menschen mit Multimorbidität noch tief durchatmen? Ein Phänomen des Menschseins ist es, dass wir uns vom Schmerz wegbewegen, anstatt zu ihm hinspüren. So passiert es, dass sich in jedem Menschenleben Vermeidungsstrategien und   Schonhaltungen   ansammeln und kumulieren. Es macht Sinn, dass bei akuten Schmerzen ein Mechanismus entsteht, der auf das Ausweichen bedacht ist. Im Zuge der Genesung ist es jedoch vonnöten, diese Mechanismen bewusst wieder zu lösen. Ansonsten  verliert  der  Körper  immer  mehr an Bewegungsspielraum und kommt der Starre näher. Dies wiederum bringt ein Erstarren der körpereigenen, organischen Systeme mit sich.

Was hat dies nun alles mit der Pflege zu tun? Indem wir unser Augenmerk vermehrt auf den Brustkorb der BewohnerInnen lenken, finden wir neue Wege, sie bezüglich dieser stabilen Masse zu unterstützen. Das wiederum hilft den Menschen, sich selbst dieser Körperteile bewusst zu werden. Aber auch auf ganz körperlicher, biologischer Ebene hilft es den  BewohnerInnen,  wieder mehr Bewegung und somit auch Sauerstoff in den eigenen Körper, in die Zellen zu bringen.

Bewegungsfreiheit und das Brustbein. Wenn der Brustkorb das Stiefkind der Massen ist, so ist das Brustbein das Stiefkind des Brustkorbes. Ist es nicht spannend, wie selten in der Pflege das Brustbein der BewohnerInnen unterstützt wird? Es scheint mir  ein Tabu zu sein, den Menschen dort zu berühren. Ja, es ist die Vorderseite des Menschen und von daher intimer als der Rücken. Wenn wir jedoch noch einmal zur Anatomie zurückgehen, sehen wir, dass das Brustbein der größte und stabilste Knochen im ganzen Brustkorb ist; trotzdem lässt er Bewegung zu. Es ist eine kleine, feine Bewegung, die aber phänomenale Auswirkungen hat.

Unterstützung des Brustkorbes. Das gebückte Gehen muss nicht sein  oder  kann  erleichtert  werden,  wenn wir den BewohnerInnen vor dem Gehen die Zeit und den Impuls geben, sich erst einmal aufzurichten. Es ist zudem spannend, wie viel Bewegung bei BewohnerInnen möglich ist, wenn wir eine Hand bei ihrem Brustbein und die andere auf ihrem Rücken haben.

Interessant ist es, zu beobachten, wie Pflegepersonen BewohnerInnen beim Aufstehen vom Stuhl unterstützen. Unbedarft und  gleichzeitig  entwürdigend ist dabei wohl der «Hosenlupf», bei dem die Pflegende die BewohnerIn am Hosenbund hochzieht. Wie viel leichter und würdevoller ist es da, dem Menschen eine

Hand auf den Rücken zu legen und ihn zu unterstützen, das Gewicht des Oberkörpers über die Beine zu organisieren, bis sich das Gesäß wie von allein vom Stuhl hebt? Auch beim Aufstehen vom Bett kann beispielsweise eine Hand auf dem Rücken und ein gemeinsamgleichzeitiges Aufstehen genügen.

Ich denke, wenn wir weniger am anderen tun und mehr mit der eigenen Anatomie sowie derjenigen der BewohnerInnen mitgehen, führt das zu einer enormen Erleichterung für die Pflegenden. Gleichzeitig erfahren wir mehr Freude und Neugier für das Miteinander. Die BewohnerInnen können durch die Unterstützung am Brustkorb ihre eigenen Arme und Hände wieder vermehrt einsetzen. Dies gibt ihnen Selbstbestimmung, mehr Lebensqualität und ein Gefühl der Selbstwirksamkeit. Die Würde der Menschen ist gewährleistet und respektiert. Mit dieser bewegten Anatomie ist somit allen gedient. Probieren Sie es aus und entdecken Sie es selbst.

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