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Larger than life – Größer als das Leben

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Am 24. Mai 2021 ist die Tanzpionierin Anna Halprin im Alter von hundert Jahren gestorben. Sie war Tänzerin, Forscherin, Aktivistin, Rebellin, Schamanin. Im «New York Times»-Artikel vom 26. Juni kann man über die vielen Meilensteine, ihren Einfluss auf die Tanzwelt, ihre Biografie, ihre Erfolge und ihre Auszeichnungen lesen. Petra Prensky erlebte sie als eine sehr eigenwillige, mystische, liebevolle, geradlinige Frau, die mit Leib und Seele lebte, liebte und tanzte.

Tanzbegeistert und ungestüm. Hanna Dorothy Schuman wurde am 13. Juli 1920 in Wilmette, Illinois, einem Vorort von Chicago, geboren. Sie war die einzige Tochter und das jüngste von drei Kindern. Schon als kleines Mädchen war sie gerührt, wenn sie ihrem Großvater bei seinen Tänzen in der Synagoge zuschaute. Sie war fasziniert von seiner Leidenschaft, wenn er das Gebet tanzend verkörperte in seiner sinnlichen Verbindung zu Gott. Da ihr Großvater nur Jiddisch sprach und sie nur Englisch, drückte sich die liebevolle Beziehung zwischen Anna und ihm vor allem durch Körpersprache und Berührung aus.

Es war ihr früh klar, dass sie Tänzerin werden wollte. Anna wurde von ihrer Mutter unterstützt, die ihr nahelegte, verschiedene Stile des Tanzes kennenzulernen. Die Realität des klassischen Balletts zeigte ihr früh auf, dass sie nicht in das Schema einer Ballerina passte. Dafür war ihr Lockenkopf zu unbändig, genauso wie der Freigeist, mit dem sie geboren wurde.

A force to be reckoned with. Anna war bereits eine lebende Legende, als ich sie als Lehrerin kennenlernen durfte. Im Herbst 1993 kamen 25 Studenten aus der ganzen Welt im Tamalpa Institute in Kentfield, Kalifornien, zusammen. Hier lernten wir im ersten Quartal die Grundlagen des Halprin Life/Art Process. Während drei Wochen wurden wir von Daria Halprin, Annas Tochter, und den anderen LehrerInnen in die Arbeit eingeführt. Wir freuten uns auf die Naturtänze mit Anna auf Sea Ranch, einem Küstendorf nördlich von San Francisco.

Daria machte uns klar, dass Anna eine Künstlerin sei und sicher kein Interesse daran habe, unsere Therapeutin zu sein. Anna sei eine Persönlichkeit. In meinen Notizen von damals steht: «Nimm das, was für dich hochkommt, wenn du mit ihr zusammen bist, als eine Ressource für deinen eigenen Prozess und dein Wachstum. Sei dankbar für die Chance, Zeit mit einer Legende zu verbringen. Respektiere die ganze Legende, die ganze Person mit ihren dunklen und hellen Seiten.» Anna war eine Kraft, mit der man sich auseinandersetzen musste.

Sea Ranch. Mit dieser Vorwarnung gewappnet fing die zweiwöchige Lehrzeit mit Anna an. Anna hatte klare Grundsätze, beispielsweise: «No tabus – take everything as a resource». Alles war erwünscht, alles durfte von uns als eine Ressource anerkannt und durch den künstlerischen Prozess ausgedrückt werden. Es gab keine Tabus. Wenn wir ein Problem hatten, mussten wir uns tanzend, zeichnend, schreibend damit auseinandersetzen und es dann gehen lassen. «Dance it, draw it, write about it and get over it.»

Wir wurden angeleitet, mit der Natur eins zu werden. Sie nicht nur von außen zu betrachten, uns nicht als von dieser separiert zu sehen, sondern uns unserer eigenen Natur bewusst zu werden. Uns als Einheit mit ihr zu bewegen. Wie würden wir uns bewegen, wenn wir ein Baum wären? Sand? Stein? Meer? Werde zur Natur und bewege dich als Teil der Natur.

Limitation is the mother of creativity. Einen Score werde ich wohl nie vergessen: Anna hatte zwei Stapel Karteikarten. Auf dem einen waren Aktivitäten und auf dem anderen Elemente aufgeschrieben. Beim ersten Mal zog ich «push» und «sand». Auf ging’s zum Sand schieben! Ein anderes Mal erhielt ich die Karten «hit» und «rock». Zwei Stunden Stein schlagen, na toll! Da waren nun 25 Menschen auf einer sandigen Bucht am Pazifik und benahmen sich von außen gesehen sehr merkwürdig. Ich fand mich nach einer gewissen Zeit auf einem Felsen mit einigen anderen zusammen, die mit Hölzern oder Steinen schlugen. Wir fingen an, im Takt miteinander zu schlagen. Ein Rhythmus entstand und wurde zu einem Lied. Ein Text kam aus unserem Innersten: Too much money to be bored. – Wir haben zu viel Geld bezahlt, um uns zu langweilen. Von Langeweile war jedoch keine Spur. Wir amüsierten uns köstlich und fanden einen kreativen Ausdruck, der uns ein Gefühl von Zugehörigkeit gab. Ich erinnere mich noch, wie ich von da oben Clive sah, der seit Stunden ganz langsam einen riesigen Haufen dickes Seegras den Strand entlanghievte.

Als wir am Abend in der Gruppe diesen Score besprachen, stellten wir fest, wie jede Person einen eigenen Prozess durchlaufen hatte; welche Lebensthemen dabei aufschienen, wie wir damit umgingen, was sich in jedem verändert hatte. Es wurde gelacht und geweint. Anna hatte uns am eigenen Leib einen weiteren Grundsatz erleben lassen: «Limitation is the mother of creativity» –Begrenzung ist die Mutter der Kreativität.

Da wir auf Sea Ranch zusammenlebten, kamen wir auch mit Anna als Mensch in Berührung. Der nordkalifornische Herbst ist nicht besonders warm. Wir verbrachten die Tage am Strand, eingetaucht in die Elemente, unsere Bewegungen und kreativen Prozesse. Wir waren froh, dass wir am Abend in die Sauna gehen konnten. Anna kam mit uns Frauen mit. Sie zeigte uns den Schlauch und den Einschnitt im Bauch, der es ihr ermöglichte, ihren Darm zu entleeren. Sie erzählte uns von der Krebsdiagnose. Wie sie sich in ihr Ferienhaus auf den Klippen von Sea Ranch zurückgezogen hatte, sich voll und ganz in den kreativen Prozess fallen ließ und den Krebs so konfrontierte und letztlich besiegte.

Living at the edge. Eines Tages, in einer Zeit vor unserer Begegnung, tanzte Anna und malte ein lebensgroßes Selbstportrait. Dadurch wurde Anna auf einen Punkt in ihrem Körper aufmerksam gemacht, den sie von ihrem Arzt untersuchen ließ. 1972 wurde dann rektaler Krebs bei ihr diagnostiziert. Er war genau dort, wo sie auf ihrem Bild einen schwarzen Ball gemalt hatte, den sie nicht tanzen konnte. Mit dieser persönlichen Herausforderung änderte sich ihr Leben und ihre Arbeit.

Wie konnte sie durch ein Bild eine unbewusste Botschaft erhalten über etwas, das sich in ihrem Körper abspielte? Sie beschrieb dies im Buch «Tanz, Ausdruck und Heilung». Sie entdeckte, dass die Verbindung von Bewegung mit Bildern und einem kreativen Umgang mit Gefühlen das Unbewusste erschließt, eine persönliche Auseinandersetzung initiiert und dadurch heilend wirken kann. Mehr als an ihrer konkreten Heilung war sie daran interessiert, wie dieser Heilungsprozess funktioniert. So forschte sie weiter. Der Halprin Life/ Art Process entstand.

Sie begann mit Krebskranken zu arbeiten. In den Achtzigerjahren kam es mit der Aidsepidemie zu einer neuen Herausforderung. Sie kreierte Workshops für Menschen auf der Schneide zwischen Leben und Tod. Sie sprengte auch da immer wieder Konventionen und war eine der Pionierinnen, die sich für die Anerkennung von Tanz als Heilkunst einsetzte.

Der ruhende Pol hinter der Legende. Rückblickend frage ich mich, wie sie das alles erreichen konnte. Dabei kommt mir Larry, ihr Ehemann, in den Sinn. Lawrence Halprin war die große Liebe von Anna. Larry war Architekt und so luden sie ArchitektInnen, KünstlerInnen, PsychologInnen in ihr Mountain Home Studio ein und tauschten sich interdisziplinär aus. Larry und Anna beeinflussten sich und ihre Arbeit gegenseitig.

In den Sechzigern erforschten Anna und ihr Dancers’ Workshop tanzend Tabuthemen wie Sexualität und Rassismus. In den Siebzigern durchlebten sie gemeinsam Annas Auseinandersetzung mit dem Krebs. In den Achtzigerjahren etablierte Anna mit ihrer Tochter Daria das Tamalpa Institute auf Larry und Annas gemeinsamem Grundstück in Kentfield. In den Neunzigern fing Anna wieder an, auf der Bühne zu tanzen. Bis zu seinem Tod am 25. Oktober 2009 war Larry immer der ruhende Pol an ihrer Seite.

Obwohl wir von 1993–1995 fast jeden Tag auf dem Grundstück von Anna und Larry tanzten, sahen wir ihn kaum. Ihr Wohnhaus liegt oberhalb des Studios und er muss uns wohl immer wieder mal gehört haben. Seine Präsenz war jedoch fühlbar. Die Liebe, die Anna für ihn empfand, war offensichtlich. Im Film «Breath Made Visible» ist die Zärtlichkeit und Zuneigung der beiden für immer sichtbar.

Zurück im Mountain Home Studio. Im zweiten Teil der Ausbildung führte Anna uns tiefer in die Bewegung ein. Wir lernten unseren Körper den drei Elementen Gravitation, Trägheit und Schwung zu überlassen. Tagelang übten wir Schwingen, Fallenlassen und Wiederaufstehen. Auch machte Anna uns klar, dass wir für andere Menschen nie bestimmte Gefühle herbeiführen können, sondern es unser Job ist, den Rahmen zu gestalten, in dem es den Menschen um uns herum möglich wird, ihre eigenen Erfahrungen zu machen und Gefühle zu entwickeln. Sie lehrte uns, dass wir ein Augenmerk auf die drei Bewusstseinsebenen Körper, Geist und Emotion haben sollen. Sind diese drei Ebenen in Harmonie, dann ist es die spirituelle auch. Sie war taff, liebevoll und vor allem neugierig. Im Unterricht tanzte sie mit uns. Ich war immer wieder erstaunt, wie agil und lebendig sie mit 73 Jahren noch war. Sie hatte eine Ausdauer, die mich überraschte. Sie tanzte uns – Jahrzehnte Jüngeren – auf der Nase herum.

Eines Tages kam Anna zu uns ins Studio herunter. Es war ein besonderer Moment. Sie wollte uns vortanzen. Sie habe seit einiger Zeit an einer Performance gearbeitet und wolle, dass wir die ersten seien, die sie sehen dürften. Es war eine autobiografische Liebeserklärung an ihren Großvater. Das Stück hatte den Titel «The Grandfather Dance». Mit 74 betrat sie das erste Mal seit zwanzig Jahren wieder die Bühne. In den darauffolgenden Jahren gestaltete sie verschiedene Bühnenauftritte, die sich mit Altern und Tod auseinandersetzten. Sie unterrichtete in ihrem Studio bis vor wenigen Jahren wöchentlich.

Perlen des Lebens. Nach meiner Ausbildungszeit verlor ich den Kontakt zu ihr. Eines Tages nahm ich mir vor, meine alten Boxen durchzugehen. Meine Habe sollte so in drei Haufen aufgeteilt werden; Sachen zum Fortwerfen, zum Weggeben und zum Behalten. Jedes Mal, wenn mir etwas in die Finger kam von meiner Zeit am Tamalpa Institute, war ich tief gerührt. Mir wurde bewusst, was für wertvolle Perlen mich diese Zeit für mein weiteres Leben finden ließ.

2017 wurde ich angefragt, ob ich ein Buch über John Graham schreiben würde. Da Anna mit ihm über 25 Jahre zusammengearbeitet hatte, sollte ich sie zu ihm interviewen. Zu meinem Erstaunen sagte sie erst einem Interview zu, machte dann jedoch einen Rückzieher, da es für sie zu unangenehm sei. Sie schrieb, dass sie in den Sechzigerjahren einen Streit gehabt hätten und darauf den Kontakt verlorengegangen sei. Als sie im Spital war und sich vom Krebs erholte, besuchte er sie. Und sie sah John, bevor er gestorben ist. Sie gingen als Freunde auseinander.

Vor zwei Jahren fuhr ich zu ihrem Mountain Home. Ich klingelte an ihrer Tür und gab das Buch ab. Da ich sie nicht stören wollte, legte ich einfach einen kleinen Zettel für sie bei und bedankte mich bei ihr. Einen Tag später erhielt ich ein E-Mail, ich solle Anna so schnell wie möglich anrufen. Wir sprachen etwa zwanzig Minuten miteinander. Sie freute sich sehr über das Buch, sagte, sie habe Tränen in ihren Augen. Obwohl sie kein Deutsch lesen könne, habe sie das Buch berührt und sie erkenne dessen Schönheit. Sie sei dankbar, dass John so verewigt ist.

Nicht nur Legende, allem voran Mensch. Anna fragte mich, warum ich denn nicht gleich ins Haus gekommen sei. Ich sagte, dass ich zu viel Respekt hatte und mich nicht aufdrängen wollte. Sie meinte, sie freue sich immer sehr, wenn frühere StudentInnen sie besuchen kommen. Wir seien Familie. Das nächste Mal soll ich nicht mehr so schüchtern sein. Erst da erkannte ich, dass Anna nicht nur eine lebende Legende war, sondern ein Mensch, der sich einfach freut, wenn sie Besuch erhält und ein Austausch entsteht.

Die Auseinandersetzung mit ihrem Leben, jetzt nach ihrem Tod, löste in mir einen Prozess aus. Anna hat in ihren hundert Jahren so viel geleistet, so viele Weichen gestellt, so viele Beiträge geleistet. Wenn ich ein Video oder einen Film über sie sehe, kommen mir heute noch Tränen. Ich merke, dass sie mich immer noch und immer wieder berührt.

Diese Frau hatte Chutzpe, eine charmante, kraftvolle, intelligente Dreistigkeit, die ihr in schwierigen Situationen half und zu grundlegenden Transformationen in der Tanzwelt und in der Heilkunst führte. Ihr Sein hat das Leben Tausender von SchülerInnen verändert. Sie hat uns mit ihren tiefen, inneren Sehnsüchten nach Wahrhaftigkeit, kreativem Ausdruck, Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Wildheit und einer unbändigen Lebendigkeit angesteckt. Was für eine Naturgewalt diese Frau war! Ihre Spuren haben einen bleibenden Eindruck in dieser Welt hinterlassen. Sie war wahrlich größer als das Leben selbst. Ihr Vermächtnis lebt weiter – in jedem von uns.

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