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Kunst, die bewegt

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Gedanken während der TrainerInnen-Ausbildung

Fasziniert hat die Autorin beobachtet, wie eine Kinaesthetics-Trainerin mit ihrem Vater arbeitete und in kurzer Zeit scheinbar Unmögliches ganz spielerisch möglich wurde. Jetzt ist sie selbst in der Ausbildung zur Kinaesthetics-Trainerin Stufe 1 und ist sich sicher: Kinaesthetics ist eine Kunst – eine Kunst, die bewegt.

Körperbewusstseinsarbeit. In den 1980er-Jahren brachten Frank Hatch, Lenny Maietta und John Graham ihre Arbeit, die sie damals «Gentle Dance», «Touch Well» und «Kinaesthetics» nannten, nach Europa. Zusammen mit 15 weiteren Personen gründeten sie in Zürich den «Verein für Kinästhetik» und legten damit den Grundstein für eine sehr nachhaltige Entwicklung.

Die Arbeit der GründerInnen-Generation von Kinaesthetics wurde maßgeblich beeinflusst von den PionierInnen der Körperbewusstseinsarbeit. Das waren unter anderen Moshé Feldenkrais, Frederick Matthias Alexander, Fritz Perls und Anna Halprin. In der Arbeit von Anna Halprin wird ein Symbol verwendet, das meines Erachtens dabei helfen kann, den Teil von Kinaesthetics besser zu verstehen, der künstlerisch gestaltend ist.

Die zwei Spiralen. In der Ausbildung zur Halprin-Life/Art-Practitioner lernten wir das Symbol der zwei Spiralen kennen. Die innere Spirale fängt außen an, wird kleiner und führt mehr und mehr in die Mitte. Die zweite Spirale führt aus dieser Mitte hinaus und wird immer größer.

Im Halprin-Life/Art-Process führt die erste Spirale durch Tanz, Zeichnen und Schreiben in ein vertieftes Verstehen der eigenen Geschichte und dem Archetypischen in unserem persönlichen Leben. Die zweite Spirale symbolisiert dieses tiefere Verstehen, durch das man den menschlichen Aspekt in den Tanz oder eine andere Kunstform fließen lassen kann, wodurch wiederum das Archetypische im Zuschauer angesprochen wird. Man kann sagen: Die eine Spirale entfaltet ihre Wirkung nach innen, die andere nach außen.

Daraus entsteht Kunst, die nicht nur technisch ausgeführt wird, sondern durchtränkt ist mit den eigenen, tiefen Erfahrungen des Menschseins. Diese Art der Kunst berührt, weil sie auf einer archetypischen Ebene Teile in Resonanz bringt, die wir in uns selber erkennen. Sie geht unter die Haut und bringt die Dinge in eine Bewegung, welche die persönliche Evolution, also die Entwicklung des eigenen Lebens unterstützt.

Lost in translation. In einer früheren Ausgabe der Zeitschrift LQ habe ich gelesen, dass Kinaesthetics Sprachentwicklung ist. Es ist die Kunst, die richtigen Worte zu finden, das Unaussprechbare zu artikulieren. Wir werden herausgefordert, Worte zu finden für innere Empfindungen, die oft eher vage sind. Es geht darum, die naheliegendsten, alltäglichen Erfahrungen beschreiben zu können. Da ich über zwanzig Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt habe, sind mir amerikanische Ausdrücke oft geläufiger als deutsche. Es fasziniert mich immer wieder, die Unterschiede der beiden Sprachen zu erforschen. So finde ich es sehr interessant, wie im Englischen mit dem Begriff «Kunst» umgegangen wird. Kampfsport heißt beispielsweise «martial arts», also Kampfkunst, die Sprachwissenschaften werden «language arts» genannt, also Sprachkünste.

Lineares und zirkuläres Denken. In der Kinaesthetics-Ausbildung lernen wir den Unterschied zwischen linearem und zirkulärem Denken. Um diesen Sachverhalt besser zu verstehen, half mir die Gegenüberstellung zweier Begriffe, die beide sowohl im Deutschen als auch im Englischen existieren: dem «Dominoeffekt», (englisch «domino effect») und dem «Welleneffekt» (englisch «ripple effect»). Die beiden verweisen auf unterschiedliche Denkweisen. Der Begriff Dominoeffekt rührt ursprünglich vom Dominospiel her. Bei diesem wird eine Reihe von Dominosteinen hintereinander aufgestellt. Wenn man den ersten Stein antippt, löst das den Dominoeffekt aus und die Steine fallen einer nach dem anderen um. Der Fall eines Steines löst den Fall des nächsten aus. Der Begriff für diesen Prozess kann in übertragener Bedeutung auch auf andere Vorgänge angewendet werden, die aus einer Abfolge sich bedingender Ereignisse bestehen. Der Dominoeffekt steht dadurch auch für lineares Denken. Beide haben einen klaren Anfang, eine klare Richtung und ein klares Ende. Der Begriff Welleneffekt bezieht sich auf die Beschaffenheit einer Wasseroberfläche. Wirft man einen Stein ins Wasser, erzeugt das konzentrische Kreise respektive Wellen. Es werden immer wieder neue Kreise geformt, die sich ausdehnen und mit allem auf ihrem Weg interagieren. Dabei ist schwierig zu sagen, wie weit diese Kreise ziehen. Mir erscheinen sie unendlich. Ähnlich ist es mit dem zirkulären Denken. Verschiedene Einflüsse bilden konzentrische Kreise, die immer weitergehen. Die Möglichkeiten scheinen unendlich.

Die Kunst von Kinaesthetics. Was hat dies alles nun mit Kinaesthetics zu tun? Schauen wir uns nochmals das Symbol der Spiralen an. Die einwärts fließende Spirale steht für die Entwicklung des eigenen kinästhetischen Sinnes, der in der eigenen Auseinandersetzung mit sich selbst und in der Begegnung mit anderen Menschen geschult wird. Je mehr der kinästhetische Sinn ausgebildet wird, desto größer ist die Bewegungskompetenz sowie auch die Bewegungsfreiheit. Die Kunst von Kinaesthetics sehe ich in der zweiten Spirale. Wie setze ich diesen geschulten kinästhetischen Sinn und diese erhöhte Bewegungskompetenz ein, um im Außen neue Möglichkeiten zu gestalten? Wie kann ich das zirkuläre Denken einsetzen, um Wege zu gehen, die mir vorher verborgen geblieben wären? Wie kann ich eine Leichtigkeit des Seins in die Arbeit und meinen Alltag bringen, die für mich die Kunst von Kinaesthetics ausmacht?

Kunst ist Mühelosigkeit. Wenn eine TänzerIn jahrzehntelang täglich geübt hat, sieht ihr Tanz schwerelos und leicht aus. Ähnliches erfahre ich auch, wenn ich Kinaesthetics-TrainerInnen zuschaue, die die Kunst von Kinaesthetics in ihrem eigenen Wesen verkörpern. Eine dieser Kinaesthetics-Künstlerin-nen ist Ruth Knobel. Ich habe sie erlebt, wie sie mit meinem Vater, der in BESA-Stufe 11 eingeteilt war, umgegangen ist. In-nerhalb einer halben Stunde konnte er fast selbstständig vom Liegen im Bett ins Sitzen auf der Bettkante kommen. Er selbst konnte es kaum glauben. Er war so beeindruckt, dass er sofort ja sagte, als wir ihn fragten, ob er noch den Transfer vom Rollstuhl in den PKW üben wolle. Siehe da, auch das ging fast mühelos.
Fasziniert schaute ich Ruth Knobel zu, wie sie sich bewegte, wie sie scheinbar leicht und ohne Anstrengung jegliche Problemsituationen meisterte. Für mich verkörpert sie die Kunst des kinästhetischen Seins. Die Kunst, der eigenen Körperweisheit zu folgen und so das scheinbar Unmögliche möglich zu machen.

Die Nuancen der Welt sehen. Genau diese Kunst in mir selbst zu erfahren und zu leben, hat mich bewogen, die Ausbildung zur Kinaesthetics-Trainerin anzugehen. Obwohl ich schon seit frühester Kindheit im kinästhetischen Wahrnehmen geschult wurde, ist mir jetzt bewusst geworden, was für einen weiten Weg ich noch vor mir habe. Ich merke beispielsweise, wie oft ich in ein lineares Denken verfalle. Das lineare Denken hat mich immer wieder beschränkt: Ich teilte die Welt in Gut und Böse ein, statt sie in ihren unterschiedlichen Nuancen zu sehen. So war lange Zeit für mich klar, dass 2 + 2 = 4 ist und nicht 2 + 2 = grün, wie Heinz von Förster in einem seiner Vorträge vorschlug. Zirkulär zu denken war mir fremd. Das lineare Denken wird gesellschaftlich anerkannt, vergöttert und uns auf Biegen und Brechen eingedrillt. Daraus auszubrechen, kommt oft nicht von selbst. Es braucht Übung und Disziplin, sich selbst ein zirkuläres Denken anzueignen. Das zirkuläre Denken ist eine Möglichkeit, mit der gesamten Farbpalette, mit den Primär- und Mischfarben des Universums zu gestalten. Die Kunst von Kinaesthetics beinhaltet dieselbe Transformation. Nicht das Urteilen in richtig und falsch, sondern die Frage: «Was ist auch noch möglich?» wird in den Mittelpunkt gestellt. Diese Transformation der Betrachtungsweise ist wie der Unterschied und der Übergang von Schwarz-Weiß-Filmen zu Filmen in Technicolor.

Der ursprüngliche Sinn der Kunst. In der heutigen Gesellschaft wird Kunst oft zu einem Konsumgut degradiert. Sie soll unterhalten, aber schön an der Oberfläche bleiben. Sie soll das Boot unserer Bequemlichkeiten ja nicht ins Wanken bringen. Diese Art von Kunst verfehlt das der Kunst eigentlich innewohnende Potenzial, Katalysator für die persönliche Evolution der Menschen zu sein. Eine ursprüngliche Funktion der Kunst war und ist es, die Gesundheit der Mitglieder des Kollektivs zu gewährleisten. So kann es sein, dass Kunst die Gesellschaft aufrüttelt, dass sie Dinge aufzeigt, die nach Veränderung rufen. Wahre Kunst spricht das Unaussprechbare aus, sie macht das Unsichtbare sichtbar. Wahre Kunst hat auch eine gewisse Narrenfreiheit. So durfte ein Narr am Hof das aussprechen, worüber alle tuschelten, aber über das niemand sonst laut sprechen durfte. Diese Rolle war und ist sehr wichtig für eine Gesellschaft.

Die Kunst von Kinaesthetics. Was ist der kreativ-gestalterische Aspekt von Kinaesthetics? Wie weit geht dessen Einflussbereich? Was kann man mit Kinaesthetics aufzeigen und aussprechen, das zur Gesundung der Gesellschaft beiträgt? Wie setzen wir unsere eigene Narrenfreiheit in unserer Arbeit und im Privatleben um? Wie kann Kinaesthetics uns helfen, auch andere Bereiche unseres Lebens neu zu erfahren? Wie können wir mit Kinaesthetics neue Wege gehen?

In Kinaesthetics steht das Lernen im Mittelpunkt. Es ist die Kuriosität, die Neugier, die Forscherfreude, die mir immer wieder begegnet. Die Menschen werden in ihrem Lernprozess abgeholt und unterstützt. Das, was möglich ist, rückt in den Vordergrund. Gemeinsames Lernen und Erfahren ist angesagt. Die Lebenserfahrung und Würde eines Menschen wird wertgeschätzt. Nicht das Wissen, sondern die Entwicklung und das Lernen stehen im Mittelpunkt. Kinaesthetics bedingt den Mut, demütig und ohne vorgefasste Meinungen an neue Situationen heranzugehen. Es bedingt den Mut, bereit zu sein, neue Wege zu gehen, und die Dinge aus dem Nicht-wissen heraus geschehen zu lassen. Die Kunst von Kinaesthetics hat aber auch mit Ästhetik (siehe Kasten) zu tun, was umgangssprachlich mit Schönheit, Geschmackvollem und Ansprechendem gleichgesetzt wird. Kinaesthetics bedeutet die Kunst der inneren Wahrnehmung. Das Wort setzt sich aus Kine und Ästhetik zusammen. Ästhetisch ist alles, was unsere Sinne bewegt, ohne Unterteilung in Gut und Schlecht.

Eine Vision. Am Anfang dieses Artikels habe ich geschrieben, dass dies ein Versuch ist, den Teil von Kinaesthetics besser zu verstehen, der künstlerisch gestaltend ist. Zu diesem Zweck schauen wir uns nochmals die zweite Spirale an. Die Auswärtsspirale steht für die Kunst, die Welt und die ihr innewohnenden Möglichkeiten zu erfassen, um kreativ zu gestalten, was sinnvoll, zukunftsweisend und nachhaltig ist. Ich denke, das geht weit über die Pflege hinaus. Ich sehe, wie Kinaesthetics wertvolle Beiträge leisten kann in der Erziehung, im Schulwesen, in der Geschäftswelt, in zwischenmenschlichen Beziehungen und vielen anderen Bereichen. Zirkuläres Denken, Lern- und Wachstumsparadigma, das sind Bezeichnungen, deren Bedeutung wir in der Ausbildung erfahren. Wie verändert sich die Welt, wenn wir diese Prinzipien in unserem Alltag konsequent anwenden? Was passiert, wenn wir aufhören, defizitär und linear zu denken, und stattdessen beginnen, resourcenorientiert und zirkulär zu denken? Kinaesthetics wird dann zu einer Kunst, die bewegt. Sie wird zu einem Katalysator für die persönliche Evolution der Menschen. Dies führt uns zurück zu der Grundinspiration der Pioniere der Körperbewusstseinsarbeit. Eine Welt der unendlichen Möglichkeiten öffnet sich, in der wir gemeinsam gestalten können. Wie sieht dieser gestalterische Beitrag aus? Deiner? Meiner? Unserer? In welchen Lebensbereichen werden wir gestalten? Was werden wir erschaffen, wenn wir uns erlauben, die Narrenfreiheit einer wahren KünstlerIn in unsere Arbeit und in unser Sein einfließen zu lassen? Welche Türen öffnen sich, welche Früchte werden wir ernten, wenn wir Kinaesthetics als eine Kunst betreiben, die weit über das hinausbewegt, was wir mit unserem Denken bis jetzt als möglich erachteten? Bei mir kommt ganz viel Freude auf, denn die Zukunft scheint mir bunter zu werden, verspielter, leichter, präsenter, klarer.

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